Das Dattelner Abendmahl und seine Folgen

 

 

DATTELN. Vor 100 Jahren besetzte Frankreich das Ruhrgebiet. Die essener Ausstellung „Hände weg vom Ruhrgebiet!“ dokumentiert heute auch das „Dattelner Abendmahl“ vom 30. März 1923.

 

Von Albrecht Geck, Dattelner Morgenpost, 18. März 2023

 

Die Ruhrbesetzung ist der Höhepunkt in den Auseinandersetzungen um die deutschen Entschädigungszahlungen nach Ende des Ersten Weltkrieges. Als deutschland damit zunehmend und – wie der Vorwurf lautete – absichtlich in Rückstand geriet, marschierten französische und belgische Truppen in das Ruhrgebiet ein.

 

In Datteln traf am 15. Januar 1923 gegen 8 Uhr morgens ein Radfahrertrupp von 25 Mann ein, der den Bahnhof besetzte und die weitere Besatzung sicherte. Schließlich waren hier 12 Offiziere, 600 Mann und 150 Pferde stationiert und mussten untergebracht werden. Die Empörung über diese Maßnahmen und die mit ihnen verbundenen Einschränkungen war groß. Gerhard Janssen führte schon 1928 in seinem Buch „Die Franzosen in Datteln 1923-25“ genau Buch über die Ereignisse. Von „Leid“, „Schmerz“ und „Qual“ ist die Rede. Nicht zu Unrecht! Aber es handelt sich um eine von der Regierung in Auftrag gegebene Darstellung. Janssen dokumentiert die Feindschaft zwischen Frankreich und Deutschland. Zwischentöne kommen kaum vor. Und so erklärt es sich wohl, dass er das „Dattelner Abendmahl überhaupt nicht erwähnt.

 Auch der französische Besatzungsoffizier Etienne Bach (1892-1986), der früher Theologie studiert hatte und eine Hauptrolle in diesem Drama spielte, kommt nicht vor.

 

Das Lutherhaus wurde im Jahr 1916 fertiggestellt. Nachdem die französische Armee das Ruhrgebiet besetzte, fand hier – am Karfreitag 1923 – das „Dattelner Abendmahl“ statt. Ein Ereignis, das für die Evangelische Kirchengemeinde Datteln zu einem wichtigen Stück ihrer Identität wurde.

 

Das Lutherhaus an der Brückenstraße

Das Dattelner Abendmahl fand nicht in der ev. Lutherkirche in der Martin-Luther-Straße, Ecke Pevelingstraße statt. Diese wurde erst 1928 eingeweiht. Sondern im Lutherhaus an der Brückenstraße, das dort 1926 erbaut worden war, um der wachsenden Gemeinde einen größeren Gottesdienstraum zu bieten. Hinter dem Altar befand sich 1923 das frisch gemalte Gemälde von Willy Burghardt. Es verklärt in dunklen, aber auch hell leuchtenden Farben den Ersten Weltkrieg, dessen Ende damals kaum fünf Jahre zurücklag. Heute steht dieses Bild in einem Gedenkraum der Lutherkirche.

 

Dort wird es historisch und theologisch kritisch eingeordnet. Damals war die Botschaft des Bildes: Wer im Ersten Weltkrieg getötet worden sei, der sei in der Nachfolge Christi gestorben. Heute weiß man: Schon weil Deutschland eine Hauptschuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatte, ist diese Aussage falsch.

 

Der Gang zum Altar

Vor diesem Bild versammelte sich am Karfreitag 1923 eine Gemeinde von etwa 300 Personen. Gerade begann Pfarrer Friedrich Wunderlich den Gottesdienst, da betrat Etienne Bach den Saal – noch dazu in Uniform! Die Gemeinde erschrak, auch Bach erschrak, als er erkannte, dass Abendmahl gefeiert würde. Spontan drehte er um, blieb dann aber doch.

 

Über das, was jetzt geschah, gibt es verschiedene Berichte. 1930 schrieb der Schweizer Theologe Eduard Thurneysen: „Im Augenblick, wo Bach vorne stand am Abendmahlstisch, wer stand neben ihm? Sein erklärtester Feind, der Bürgermeister des Ortes. […] Der Pfarrer hatte die Gnade, Bach nicht zurückzuweisen. Freilich, seine Hand zitterte, als er Brot und Wein darbot. Und sie aßen und tranken vom gleichen Brote, aus dem gleichen Kelche.“

 

Ein Jahr später beschrieb Etienne Bach die Szene so: „Wie ich im Begriffe bin, an den Altar zu treten, bemerkte ich, dass sich im selben Moment auf der anderen Seite der Bürgermeister der Stadt nähert. Atemlos blieben wir beide stehen. Aber es gilt, einen Entschluss zu fassen, denn die Blicke der ganzen Gemeinde sind auf uns gerichtet. Da haben wir zusammen das heilige Abendmahl genommen, aus demselben Kelch getrunken.“

1923 betrat der französische Offizier Etienne Bach

das Lutherhaus in Uniform.


Und dann gibt es noch eine dritte Darstellung. Mitte der 1970er Jahre schilderte Pfarrer Ernst-Peter Oetting die Szene so: „Während der Austeilung des Abendmahls bemerkte Pfarrer Wunderlich, dass auf einmal keine Gläubigen mehr zum Altar kamen, obwohl der Saal brechend voll war. Als er aufblickte, sah er, wie sich im rechten Gang die Gemeindeglieder stauten, weil ganz vorn der Beigeordnete Dr. Hans Wille stand und nicht weiterging. Im linken Gang das gleiche Bild; dort stand der französische Besatzungsoffizier Etienne Bach. Beide wollten vermeiden, gemeinsam am Tisch des Herrn zu stehen. Wunderlich überschaute die Situation mit einem Blick und breitete die Arme in einladender Geste aus.“

 

„Weltüberlegene Haltung“

Nicht jedes Detail des „Dattelner Abendmahls“ ist historisch gesichert. Sicher ist jedoch, dass nicht Bürgermeister Hans Wille, sondern Beigeordneter Karl Wille zum Altar kam. Dieser vertrat den von den Franzosen ausgewiesenen Amtmann Dr. Odenbreit. Aber es kommt nicht auf Details an. Die Berichte schildern eine kaum erträgliche Spannung im saal, und die Lösung dieser Spannung durch das Abendmahl. Dass Bach und Wille das taten, dass auch Wunderlich geistesgegenwärtig war, und Bach nicht etwa abwies, war im Grunde kaum vorstellbar. Immerhin standen die Dattelner im Widerstand gegen die Besatzung. Da durchbrach das Abendmahl die scheinbar zwingende Logik der Konfrontation. Das ist nur möglich, wenn man eine „weltüberlegene Haltung“, die der französische Literaturnobelpreisträger Romain Rolland das nennt, hat. Das ist selten genug der Fall. Denn Menschen, die nicht einfach in das Horn tuten, das ihnen hingehalten wird, sind immer in der Minderheit. Dazu gehört Mut. Thurneysen spricht gar von Gnade.

 

 

Was danach geschah

 

Nach dem Abendmahl war in Datteln zwar nicht alles, aber doch manches anders als zuvor. Bach und Wille gaben sich vor der Gemeinde die Hand. Die Besatzung war nicht zu Ende, verlief aber etwas erträglicher. Man sprach miteinander. Kurz danach wechselte Bach nach Gelsenkirchen. Dort hatte es bereits Tote gegeben. Als er den Befehl bekam, eine Demonstration wenn nötig mit Waffengewalt aufzulösen, gelang ihm eine friedliche Lösung. Das rettete Gelsenkirchen vor einer Katastrophe.

 

1924 gründete er das Friedens- und Versöhnungswerk der Chevalier au service du Prince de la Paix (dt.: Ritter im Dienste des Friedensfürsten). Es ging dabei um die Vereinigung aller Christen „ohne jede Rücksicht auf Nationen, Rassen, Klassen, Parteien und christliche Bekenntnisse“ für Frieden und Versöhnung in der Welt. Es wurde eine international verbreitete Organisation. Der deutsche Zweig „Youth Action for Peace: Christlicher Friedensdienst e.V.“ ist heute im Bereich Internationaler Workcamps für Jugendliche aktiv.

 

 

1973 kommt Etienne Bach erneut nach Datteln,

um die Gedenktafel am Lutherhaus zu enthüllen.