Die „Kleine Oase“

 

Schwester Agnes Blömen

 

In Begegnungen mit Eltern von behinderten Kindern trat uns in der Vestischen Kinderklinik – sei es in der Pflegearbeit auf der Station oder in Seelsorgegesprächen – die Not dieser Familien konkret entgegen.

Eltern, die die Versorgung und Betreuung eines behinderten Kindes oder Jugendlichen selbst tagein, tagaus wahrnehmen, leiden unter einer ständigen physischen und psychischen Belastung.

Aus dem bis heute vorhandenen Netz von Hilfen fallen sie weithin heraus. Es lassen sich viele Beispiele dafür anführen, daß solche Eltern sich über einen langen Zeitraum nicht in der Lage gesehen haben, sich einen Erholungsurlaub zur Erhaltung der eigenen Kräfte zu ermöglichen oder zu gestatten. Nur in besonders glücklichen Fällen gelingt es, Verwandte oder Freunde für eine vorübergehende Betreuung des behinderten Kindes zu gewinnen. Trotz der wachsenden positiven Bewußtseinsveränderung im Hinblick auf Integration und Förderung Behinderter sind solche Familien aufgrund ihrer eingeschränkten Kontaktmöglichkeiten häufig isoliert.

Bleiben Eltern über längere Zeit mit dieser Problematik allein, sehen sie sich unter Umständen gezwungen, ihr Kind vorübergehend in der Klinik oder für immer in ein Heim zu geben. Dabei besteht die Gefahr, daß sie selbst mit schlechtem Gewissen und mit Schuldgefühlen zurückbleiben.

Besonders problematisch wird es, wenn der betreuende Elternteil durch Krankheit ausfällt. Häufig bleibt unbeachtet, daß Geschwister von Behinderten durch die ständige Rücksichtnahme im Vergleich zu anderen Kindern ungewöhnlich belastet sind.

Aus der Betroffenheit über die Situation solcher Eltern, die am Rande der Erschöpfung standen, wuchs der Gedanke, ein Kurzzeitwohn- und Pflegeheim für behinderte Kinder und Jugendliche einzurichten, um langfristig ihre häusliche Pflege zu unterstützen, Eltern und Geschwisterkindern Urlaub und Entspannung zu ermöglichen und im Notfall Hilfe anzubieten.

Nach ersten Überlegungen innerhalb der Ordensgemeinschaft der Schwestern von der Göttlichen Vorsehung ließ sich der Diözesancaritasverband Münster als Träger der Vestischen Kinderklinik dafür gewinnen, für dieses Projekt die Verantwortung zu übernehmen. Ein solches Kurzzeitwohn- und Pflegeheim wurde als notwendige und sinnvolle Ergänzung in der Gesamtfürsorge für das kranke Kind und seine Familie angesehen.

In Zusammenarbeit von Eltern mit behinderten Kindern wurde ein Konzept entworfen, das einerseits die Unterstützung der Familie, andererseits die Persönlichkeitsentwicklung und ganzheitliche Förderung des behinderten jungen Menschen in den Blick nahm. Eine vorübergehende Trennung von der Familie und dem gewohnten Milieu kann bei individueller Betreuung in der neuen Umgebung dem behinderten Kind oder Jugendlichen auch die Chance bieten, weitere Schritte zur Verselbständigung zu tun, durch neue Kontakte und Beziehungen seine erzwungenermaßen enge Welt zu weiten.

Bei der Planung des Hauses ging man von einer Wohngemeinschaft behinderter junger Menschen und einer ständig im Haus wohnenden Gruppe von 4 Ordensschwestern aus, die für die „Gäste“ des Hauses und ihre Familien ein gewisses Maß an Kontinuität und intensiver Beziehung gewährleisten können.

In der Anfangsphase der Überlegungen bildete sich eine Initiative von Eltern behinderter Kinder, die für das geplante Kurzzeitwohn- und Pflegeheim den Namen „Kleine Oase“ wählte und damit symbolhaft die Hoffnung auf Hilfe zum Ausdruck brachte. Durch Anregung erster Spendenaktionen brachte diese Gruppe das Projekt in die Öffentlichkeit.

Nachdem der Landschaftsverband Wesfalen-Lippe dem Projekt zugestimmt hatte und der Diözesancaritasverband Münster von der katholischen Pfarrgemeinde St. Josef Datteln ein geeignetes Grundstück in unmittelbarer Nähe zur Kinderklinik in Erbpacht hatte übernehmen können, fand ein Architektenwettbewerb statt, um eine möglichst optimale Umsetzung des Konzeptes zu erreichen. Die Entscheidung fiel für den Entwurf der Architektengemeinschaft Prof. Baumerwerd/Hülsmann, Münster, der ein behindertengerecht angelegtes Atriumhaus mit zwei Wohnbereichen vorsieht, die durch einen Umgang um den Innenhof als übersichtlichen Bewegungs- und Kommunikationsraum zueinander offen sind. Ein kleiner im Innenhof gelegener und an den Wohnbereich der Ordensschwestern angebundener „Raum der Stille“ soll Sammelpunkt und geistige Mitte der „Kleinen Oase“ sein.

Jetzt begann eine Phase intensiven Vorbereitens, die von wohlwollender Akzeptanz durch die Öffentlichkeit begleitet war, vor allem auch durch die Stadt Datteln, die katholische Pfarrgemeinde St. Josef und den Förderverein „Hilfe für Kinder“ der Vestischen Kinderklinik. Vielfache Hindernisse mußten überwunden werden, vor allem in bezug auf die Fananzierung des Projektes, die lange Zeit ein ungelöstes Problem blieb.

Doch die „Kleine Oase“ hatte mittlerweile ihren Platz im Bewußtsein der Menschen in der näheren und weiteren Umgebung Dattelns gefunden. Durch die nicht abreißende Spendenfreudigkeit von einzelnen oder Gruppen wurde ein beträchtlicher Grundstock für den Bau der „Kleinen Oase“ gelegt. Schließlich konnte die Finanzierung durch Zuwendungen der „Aktion Sorgenkind“, der Stiftung „Wohlfahrtspflege“, der Stiftung „Hilfe für das bedürftige Kind“, des Kreises Recklinghausen und des Bistums Münster gefördert werden.

Einige Jahre waren seit Beginn der Planung der „Kleinen Oase“ ins Land gegangen. Im Januar 1995 konnte unter der Schirmherrschaft von Frau Christina Rau, Ehefrau des nodrhein-wesfälischen Ministerpräsidenten, der erste Spatenstich zum Bau der „Kleinen Oase“ vollzogen und im Juni 1995 gleichzeitig Grundsteinlegung und Richtfest gefeiert werden.

Ein einladendes Haus ist entstanden, in dem bis zu 12 behinderte Kinder und Jugendliche gleichzeitig wohnen können. Sie werden von pädagogisch und pflegerisch ausgebildeten Fachkräften betreut, die sich vom christlichen Menschenbild leiten lassen. Der behinderte junge Mensch wird als Partner angenommen, dessen Würde und Wohl im Mittelpunkt stehen. Die räumliche Nähe zur Vestischen Kinderklinik gibt den Eltern ein Gefühl der Sicherheit. Kompetente kinderärztliche Hilfe steht im Notfall rasch zur Verfügung.

Wir hoffen, daß die „Kleine Oase“ für behinderte junge Menschen zu einem „Zuhause auf Zeit“ werden kann, daß Familien neue Hoffnung schöpfen und daß sich damit in der Gesamtfürsorge für das kranke Kind und seine Familie im Bereich Datteln und Umgebung eine Lücke schließt.

(Veröffentlicht in: W. Andler / G. Bück, 50 Jahre Vestische Kinderklinik, Datteln 1996, S. 183-185)