Unvergessen

 

 

Ida Noll

 

(19. Mai 1901 - 6. Dezember 1963)

 

die erste Vorsitzende der Arbeiterwohlfahrt in Datteln

 

 

 

 

Im Schatten des Hungers

 

Heute unvorstellbar groß war die Not der Dattelner Bevölkerung im Winter 1945/46. Während in den ersten Monaten der Nachkriegszeit aufgrund der eigenen Ernteerträge die Versorgungsituation der meisten Dattelner Familien im Sommer und Herbst 1945 noch als ausreichend angesehen wurde, machten sich mit Ausbruch eines besonders harten Winters zunehmend der Mangel an Lebensmitteln und der damit verbundene kaum noch steuerbare Überlebenskampf der Hunger leidenden Bevölkerung bemerkbar. Große Teile der Dattelner Bevölkerung litten an Hunger und Arbeitslosigkeit. Die Zuteilungsrationen für Kartoffeln, Brot, Mehl, Fleisch und andere Lebensmittel wurden drastisch gekürzt, Elend und Not breiteten sich in Datteln flächendeckend aus. Dass als Folge dieser Not die Zahl der Kranken und Schwachen von Tag zu Tag anstieg, alarmierte damals nicht nur die Behörden und Ärzteschaft, sondern auch sozial denkende Menschen in der Stadt.


 

Die Hilfsbedürftigkeit der Menschen erkennen

Und es gab damals Menschen, die nicht wegschauen konnten, die bereit waren, den Kranken und Schwächeren zu helfen. Eine Gruppe sozial engagierter Dattelner Bürger und Bürgerinnen traf sich in der Wohnung von Rudolf und Adele Nagel an der Eisenbahnstraße 3. Ihre politische Heimat war die Sozialdemokratische Partei, ihr soziales Engagement ließ sie 1946 einen eigenständigen Ortsverband der Arbeiterwohlfahrt gründen. Die Frauen und Männer der ersten Stunde – Johann Bruttger, Luise und Karl Feyock, Ida Gratz, Karl Hansmeyer, Lina Leiendecker, Luise Kölling, Peter Meurer, Adele und Rudolf Nagel, Erna und Fritz Schneider, Herta und Wilhelm Schulte, Agnes, Anna und Alma Sahlmen, Magdalene Tarrach und Wilhelm Waschke – wählten ihren Motor Ida Noll zur 1. Vorsitzenden der neu gegründeten Ortsgruppe. Frau Noll bekleidete dieses Amt bis zu ihrem Tode am 3. Dezember 1963.

 

Not und Verzweiflung

Als typisch für die Einschätzung und Stimmung, die damals unter allen poltisch Aktiven bestand, ist uns eine Entschließung der Dattelner Gemeindevertretung überliefert. Unter dem Motto: „In der grenzenlosen Not der Gegenwart“ richteten sie einen dringenden Appell um Hilfe an die Militärregierung und den Kreisresidenzoffizier, Herrn Major Gadd:

Nun aber können die Menschen nicht mehr. Sie werden nicht mehr satt. Sie sind unterernährt und leiden an typischen Mangelkrankheiten, die letzten Endes und in der Gesamtheit nicht von Medikamenten geheilt oder verhindert werden können. Es fehlt ihnen das Nötigste an Ernährung und Bekleidung, und es besteht keine Aussicht auf Besserung. Sie sitzen sozusagen auf den Kohlen und erhalten davon soviel wie nichts. Der eine im Monat gewährte Zentner reicht für 5 Tage und eine Feuerstelle. Erwachsene und Kinder siechen langsam dahin, und alte Leute legen sich in der Apathie des Hungers und der Kälte im Wald oder in den Ecken ihrer kalten Wohnung zum Sterben nieder. ...“ (Auszug aus der Entschließung, veröffentlicht in der Westfalenpost/Ruhr-Nachrichten vom 14.3.1947)

Ida Noll: Ein Leben lang engagierte sie sich für „ihre“ Arbeiterwohlfahrt.

Die sozial engagierte Ida Noll hatte sich schon in den Wochen zuvor das volle Vertrauen des jungen AWO-Teams gesichert. Denn nicht erst mit der Gründung der Ortsgruppe praktizierte die junge Bergmannswitwe und Mutter von drei Kindern Nächstenliebe für notleidende, kranke und alte Mitmenschen. Dieses Engagement ist sicherlich aus Eigenerleben gewachsen; mit 38 Jahren war sie Witwe geworden, stand allein da mit ihren drei Söhnen kurz vor Ausbruch des Krieges 1939. Da hatte sie in ihrer eigenen Familie schon schmerzlich die Geschichte des unendlichen Leidens der „Staublunge“ erfahren, die Krankheit der Bergleute, durch die sie ihren Mann verloren hatte, die damals gefürchtete Infektionskrankheit Diphterie, an der einer ihrer Söhne gestorben war.. Am eigenen Leibe hatte sie die Trauer einer Mutter erfahren, die früh ihren Sohn verloren hatte, und die Nöte der Witwen erlitten, zu jung, um wirklich gut abgesichert zu sein.

 

Geboren wurde Frau Noll am 19. Mai 1901 als Friederike Ida Finkensiep in Rüdinghausen, Kreis Hörde, sie war die Tochter eines Grubenarbeiters; die Familie. ihre Eltern, sie und vier Brüder, bewohnte ein eigens Haus in Witten-Annen. Ab 1907 besuchte sie die Volksschule. Nach der Beendigung ihrer Schulzeit hatte sie Glück und bekam eine Stelle in einer Seifenfabrik. Schon damals war sie durch ihre soziale Einstellung sehr beliebt und fiel dadurch besonders auf. Ihren Mann Reinhold Heinrich Noll heiratete sie am 29.04.1922 in Annen. Mit ihm verschlug es sie dann nach Datteln zur Schachtanlage Emscher-Lippe. Hier gründeten die beiden eine Familie, sie bekam ihre Söhne und musste dann vier Jahre lang ihren schwer kranken, an „Staublunge“ leidenden Mann pflegen.


Ihre prekäre Situation hatte Ida Noll weit- und umsichtig werden lassen. Ihr persönliche Erfahrung motivierte sie, Wache zu halten bei Sterbenden, um ihnen einen ruhigen Tod zu ermöglichen. Und sie traf sich mit gleichgesinnten Frauen heimlich in Privatwohnungen, um Kleidung für Bedürftige anzufertigen. Sie gründete eine Nähstube, zuerst bei sich zu Hause; reihum traf man sich in den Wohnungen der Mitstreiterinnen, dort wurde mit großer Einsatzfreude genäht und gestrickt. Man verteilte auch Lebensmittel und betreute alte und kranke Menschen.

 

Dort helfen, wo die Not am größten war“

Gleich nach dem Krieg waren Ida Noll und ihre Mitstreiter unermüdlich unterwegs gewesen, um in den Notunterkünften und überbelegten Quartieren die größte Not zu lindern. Durch die Gründung des AWO-Ortsverbandes machten sie klar, dass sie mehr geben wollten als nur individuelle Hilfeleistungen, als das Abholen von Lebensmittelbezugsscheinen und Kohlekarten für alte und kranke Mitmenschen, die schlecht laufen konnten, als die Beschaffung von Säuglings- und Kindersachen für ihre Schützlinge, als das Verhandeln mit der Wohnungsverwaltung der Zeche für die Bewohner, die dies selbst nicht mehr schafften, als die Betreuung von alten und kranken Menschen.

 

In der heimischen Presse fand Ida Noll zum ersten mal Widerhall im September 1948, in dem Bericht über eine SPD-Frauentagung des Ostvestes tauchte ihr Name auf als Vorsitzende der Frauengruppe Datteln-Süd:

Sozialismus - die Lösung aller Fragen

SPD-Frauentagung des Ostvestes am Hebewerk / Leni Rommel:

 Die Frau ist verpflichtet, am öffentlichen Leben teilzunehmen“

 

Am vergangenen Mittwoch traten die Frauengruppen des östlichen Vestes der Sozialdemokratischen Partei mit einer großen Frauentagung an die Oeffentlichkeit. Als sie mit kurzen Begrüßungsworten der Vorsitzenden der Frauengruppe Datteln-Süd, Frau Noll, und der Frauengruppe Datteln-Stadt, Frau Köttermann, eröffnet wurde, war der Saal der Gastwirtschaft Schleier längst überfüllt.

Die Veranstalter hatten das Nützliche mit dem Angenehmen verbunden und jedem Geschmack Rechnung getragen. Daß es auch Kaffee und Kuchen gab, trug dazu bei, die ganze Veranstaltung günstig zu beeinflussen. Trotz dieses an sich ziemlich zwanglosen Charakters lauschte man zu Beginn des harmonisch verlaufenen Nachmittags aufmerksamen Ohres den Ausführungen der Rednerin des Tages, Frau Leni Rommel, Dortmund, die in einem kurzen Referat die Stellung der Frau im allgemeinen und die zur Politik im besonderen klar herausstellte. Vor allem wandte sich die Rednerin gegen die Ansicht, daß die Frau unpolitisch sei. Gerade in der Vergangenheit habe die Frau in vielen Situationen einen viel gesunderen politischen Instinkt entwickelt als die Männer.

Da sie als Frau und Mutter fest im Volk verankert sei, sei sie auf Grund ihrer Stellung geradezu verpflichtet, am öffentlichen Leben teilzunehmen.

Was ihr in den meisten Fällen fehle, ist die Sicherheit und Selbständigkeit, die ihr auch in der Vergangenheit immer wieder streitig gemacht worden sei. Die SPD dagegen sei bekannt als die Vorkämpferin für die Frauenrechte überhaupt und stehe auf dem Standpunkt, daß die Frau im Kampf um die Sicherstellung eines erträglichen Lebensstandards an der Seite des Mannes stehen müsse.

Die Frau als die Finanzverwalterin der Familie spüre am deutlichsten, daß von gewissen Kreisen der Versuch gemacht wird, alle durch diesen Krieg entstandenen Lasten auf die Schultern der breiten Masse des Volkes zu laden. Diesen Bestrebungen gelte es, ganz energisch entgegenzutreten. Sie zeichnete in diesem Zusammenhang ein getreues Bild der Zeit vor und nach der Währungsreform und forderte die anwesenden Frauen zum Nachdenken über all diese Vorgänge auf. Besonders herzliche Worte fand die Rednerin für den Kampf der Berliner Frauen, die sich gegen ein System auflehnen, das sie glaubten, bei Kriegsende endgültig überwunden zu haben. Zum Schluß ihrer Ausführungen fand Frau Rommel reichen Beifall.

Der gemütliche Teil der Veranstaltung wurde in der Hauptsache von der Frauengruppe der SPD Datteln-Stadt getragen, die lustige Einakter und allerlei Kurzweil aufführte. Auch die guten gesanglichen Darbietungen von Frau Lobitz und dem „Falken“-Mädel Neuhaus sollen nicht unerwähnt bleiben. Alles in allem eine Veranstaltung, wie sie unsere Frauen in der heutigen Zeit brauchen. (Westfälische Rundschau vom 28.9.1948)

 

Das Ziel aller Bemühungen war es, strukturelle Verbesserungen zu schaffen.

Sie wollten strukturelle Verbesserungen für die materiell Bedürftigen erreichen: sie wollten für die Hilfesuchenden eine ständige Anlaufstelle und Basisunterkunft im Dattelner Süden anbieten. Bei der damals herrschenden großen Wohnungsnot war es nicht einfach, eine geeignete Räumlichkeit dafür zu finden. Im Kath. Schwesternhaus, Eisenbahnstraße 17, dem heutigen Altenheim „Ludgerushaus“, konnte ein Raum angemietet werden und zum ersten zentralen Punkt für alle Menschen werden, die Hilfe brauchten. Später stellte die Stadt einen Raum in der Böckenheckschule zur Verfügung, der 1951/52 als Nähstube eingerichtet wurde. Auf der Wiese neben der Böckenheckschule wurden Stoffstücke aus Nessel, von Natur aus gelblich, in der Sommersonne ausgebreitet, die von ihren Jungen fleißig zu begießen waren, damit sie in der Sonne bleichen konnten. Anschließend wurden sie zu Hemden, Bettwäsche und Säuglingswäsche verarbeitet. Diese Stube fungierte gleichzeitig als Anlaufstelle für Beratung und Betreuung der in Not geratenen Menschen. Wichtige Aufgabenfelder in den 1950er Jahren waren die Vermittlung von Erholungsmaßnahmen für Kinder, Mütter und Familien. Aus diesen ersten Zentren entwickelten sich dann die späteren Altentages– und Begegnungsstätten. Immer wieder hatte Ida Noll dazu den Anstoß gegeben. Vielfach haben erst Ida Nolls Nachfolger die von ihr eingeleiteten Vorhaben in die Tat umsetzen können.

 

Kommunalpolitisches Engagement auch im Rat der Stadt

Angesichts der Einsatzfreude des jungen Teams funktionierte die Arbeit hervorragend. Die Gruppe wurde größer, und Ida Noll, die von ihren Mitmenschen als „Frau mit menschlicher Wärme und zielbewusster Einsatzfreude“ allseits gelobt wurde, stellte sich weiteren sozialpolitischen Aufgaben.

 

Bei der ersten Kommunalwahl, im Jahre 1948, zog sie mit Direktmandat für die SPD in den Rat der Stadt Datteln ein. Zwei weitere Legislaturperioden folgten. So wirkte Ida Noll mit viel Überzeugungskraft doppelt erfolgreich, sie fand offene Ohren als die erste Vorsitzende der Arbeiterwohlfahrt und mit ihrer sozialen Kompetenz die höchste Anerkennung in den Reihen der Dattelner SPD und bei den Vertretern aller Ratsfraktionen.

 

In Ida Nolls Amtszeit als Stadtvertreterin wurden für die große Zahl der Wohnungssuchenen auch im Dümmer neue bezahlbare Wohnungen  geschaffen.

 

 Ida Nolls Lebensziel: Der Bau eines Altenheims

Der AWO-Ortsverband wuchs ständig, die Kraft Ida Nolls schien unerschöpflich. Ihr selbst gestecktes Ziel war der Bau eines Altenwohnheims. Ganz Mensch der Tat, fuhr die engagierte Frau zum AWO-Bundesvorsitzenden, Pfarrer Heinrich Albertz, nach Berlin, um zu hören, wie es mit den Zuwendungen für das geplante Objekt steht. Mit dem Versprechen des späteren Berliner Oberbürgermeisters im Gepäck, das Projekt in Datteln mit Fördermitteln zu bezuschussen, kehrte sie froh und zufrieden nach Hause zurück. Acht Tage nachdem sie dieses positive Signal aus Berlin mitgebracht hatte, starb Ida Noll. So konnte sie ihr großes Ziel nicht selbst vollenden.

 

Sie hinterließ ein großes Erbe und motivierte Mitarbeiter, die ihr Werk fortsetzten. Den Vorsitz übernahm Anni Briem. Mit dem Bau des Altenheimes an der Leharstraße wurde bald darauf begonnen. Es konnte am 1. April 1966 offiziell eingeweiht werden. Seit dem 26. August 1989 trägt das so lang ersehnte Altenheim den Namen seiner unvergessenen Initiatorin Ida Noll, heute heißt es Ida-Noll-Seniorenzentrum. Aus der kleinen Gruppe von 20 Gründungsmitgliedern um ihre 1. Vorsitzende, Frau Ida Noll, ist über die Jahrzehnte hinweg eine verbandspolitisch beachtliche Organisation mit derzeit fast 1000 Mitgliedern geworden.